Am frühen Morgen des 2. August 1995 hatte der Spuk ein Ende. Wenige Tage vor dem Drittliga-Start von Dynamo nach dem Zwangsabstieg klickten die Handschellen. Für den nur mit Bademantel und Badeschlappen bekleideten Rolf-Jürgen Otto ein schwerer Schock. Kurz zuvor hatte er noch mit Georg Schauz telefoniert, wollte gemeinsam mit dem damaligen Dynamo-Schatzmeister die Post durchsehen. Danach war der Physiotherapeut zur Massage erschienen. Und dann kam der Staatsanwalt: „Herr Otto, Sie sind verhaftet!"

Gut zweieinhalb Jahre zuvor hatte sich das Schwergewicht aus Hessen zum Präsidenten von Dynamo Dresden wählen lassen und dem Traditionsklub dann im Frühjahr ´93 die Lizenz gerettet. Unvergessen der bühnenreife Auftritt vor der DFB-Zentrale. „Es war schwer", hatte der Baulöwe in die Telefonmuschel geschluchzt. Was damals viele ahnten, aber nur wenige wirklich wussten: Die Millionen stammten gar nicht von ihm. Vizepräsident Walter Hoff hatte in seine Schatulle gegriffen. „Wenn Otto wenigstens ein bisschen Geld gehabt hätte, der hatte aber gar keins", bringt es Ex-Schatzmeister Georg Schauz heute auf den Punkt. Drei Jahre lautete das Urteil für Otto beim Prozess vor dem Landgericht in Chemnitz im Februar ´96. Der „Dicke" hatte in Meißen das Konto eines ehemaligen Treuhandbetriebes geplündert und mit der so abgestaubten Kohle einfach nur jongliert. In Wirklichkeit war er ein bauernschlauer Krimineller, ein abgebrühter Zocker und gnadenloser Despot.

Otto konnte fluchen wie ein Bierkutscher und brüllen wie ein Stier. René Beuchel bekam es im Dezember ´93 zu spüren. Am Morgen nach dem 1:1 beim MSV Duisburg mussten er, Torhüter Stanislaw Tschertschessow und Uwe Jähnig im Hotel „Bellevue" zum Vieraugengespräch mit dem Präsidenten antanzen. Der damals gerade 20jährige Mittelfeldspieler saß an der Stirnseite einer langen Tafel, Otto tobte an der anderen. Dazwischen ein Berg von Pillen, Arznei und Medikamenten. „Beuchel, Du Blinder! Und Du willst U21 spielen? Ich schmeiß´ Dich raus, Du kannst sofort gehen, wenn ich das will!" Der Nachwuchsauswahlspieler kam nicht einmal zu Wort. Am nächsten Vormittag quietschten auf dem Weg zum Training die Reifen. Rolf-Jürgen Otto schälte sich aus seinem Mercedes-SL und fischte René Beuchel mit einer Handbewegung aus dem Spielerpulk. „Er hat sich bei mir entschuldigt, es wäre alles nicht so gemeint gewesen", schüttelt Beuchel noch heute den Kopf.

War die Kasse leer, mussten frische Scheine her. Oft klingelte dann bei Dynamo-Vizepräsident Dieter Burmester das Telefon: „Dieter, Du musst ganz schnell helfen! Der Gerichtsvollzieher war da, wir brauchen 60.000!" In Wirklichkeiten hatten Otto und sein alter Kumpel, der Anfang 2005 verstorbene Spielervermittler Willi Konrad, die Summe am Vorabend im Casino verzockt. Burmester half und Stunden später stand ein Bote mit einer prall gefüllten Tüte im Hotel „Bellevue". Der smarte Autohändler aus dem norddeutschen Rellingen half auch, als die Lizenz wieder einmal hochgradig gefährdet war. Fünf Millionen Mark wurden von der VW-Bank auf das Dynamo-Konto bei der Hypo-Vereinsbank und dann ganz schnell wieder zurückgebucht. „Die Banken sind damals im Viereck gesprungen!", erinnert sich Georg Schauz: „Das war schon kriminell!"

„Wann isch hier aufhör, bestimm isch und kei anderer!" Einmal in Rage, war Otto auch durch mehrere Zimmerwände hindurch noch sehr gut zu verstehen. Seine Wutanfälle waren berühmt und berüchtigt. Im April ´94 tobte er vor versammelter Presse und vor laufender Kamera. Auslöser war ein von seinem Amtsvorgänger Ziegenbalg gestellter Antrag auf Einsetzung eines Notvorstandes. Puderrot im Gesicht, mit Schweißperlen auf der Stirn, die Hände wild durch die Luft rudernd, in der einen die Brille, in der anderen der Zettel mit der Unterschrift von Ziegenbalg. Otto stand kurz vor dem Infarkt: „Von diesen Verbrechern räumt mich keiner weg! Das kann doch alles nicht wahr sein, wenn ich Sie bitte alle mal fragen darf! Otto musste niemanden fragen. Plötzlich war Ruhe, der Hesse wischte sich mit einem Papiertaschentuch die Tropfen von der Stirn und zuckte mit den Schultern: „So, das wars. Mehr wollt isch net sage. Reicht auch!"

Die Pleite hatte ihn ein Leben lang begleitet. Nach jedem Crash war der ehemalige LKW-Fahrer aber wieder aufgestanden. In Dresden gelang es ihm zeitweilig, eine ganze Stadt an der Nase herumzuführen. Erst präsentierte er den „künftigen Oberbürgermeister Ingo Roßberg" (Zitat Otto) in seinem Verwaltungsrat, dann wurde er sogar von Kurt Biedenkopf flankiert. Beim Halbfinale im DFB-Pokal gegen Werder Bremen (März 1994) schmauchte der Landesvater neben Marlboro-Kettenraucher Otto seine Pfeife. Wochen später hatte das Vereinsoberhaupt der Schwarz-Gelben für die FDP sogar den Sprung in den Stadtrat geschafft. Ein Jahr später erlebten die Parlamentarier im Rathaus den letzten großen Auftritt des durchaus talentierten Laien-Schauspielers. Otto bettelte um eine 10-Millionen-Bürgschaft für die Lizenz, schluchzte wieder herzzerreißend und zog zum Schluss noch einmal alle Register: „... und lieber Klaus Sammer!" Der Angesprochene, ebenfalls Stadtrat und zwei Jahre zuvor von Otto gefeuert worden, schüttelte nur mit dem Kopf. Der Antrag wurde abgelehnt. Otto hatte sein Spiel verloren, Dynamo die Lizenz - Zwangsabstieg.

So musste auch René Beuchel seine Koffer packen. Der Dresdner wechselte zu Eintracht Frankfurt, obwohl er viel lieber ein Löwe geworden wäre. Doch 1860 München war die Ablöse von 800.000 Mark zu hoch. Kaum in Hessen angekommen, bekam er einen Anruf aus München: „Für die 400.000 Mark hätten wir Dich sofort genommen!" Ottos letzte Rache an Beuchel? Zwanzig Prozent an jedem Transfer soll sich der Hesse in die Taschen gesteckt haben. Nach dem Zwangsabstieg hatte er eine komplette Mannschaft verscherbelt. Am Morgen des 2. August 1995 war die dunkle Ära in der Vereinsgeschichte beendet. Aus dem Präsidenten war ein U-Häftling geworden. Doch für Dynamo und seine Fans hatte der Leidensweg erst begonnen.